BREMERHAVEN tw ∙ Ein Stück Literatur- und Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts ist auf dem „Steinernen Album“ der Burg Weibertreu in Weinsberg (Foto oben: Düsel) zu finden. Auf ihr hat Theobald Kerner ab 1868 die Namen berühmter Gäste seines Vaters Justinus verewigt. Zu ihnen gehörte auch Rahel Varnhagen von Ense, geb. Levin (1771 bis 1833), die mit ihren „Theegesellschaften“ in Berlin das literarische Leben beeinflusste und mit ihren Briefen und Tagebucheinträgen, den – laut Frankfurter Rundschau – „vielleicht reichsten Schatz der deutschen Literatur“ hinterließ. Über „Kleine Utopien – Rahel Varnhagen und die Berliner jüdischen Salons zur Zeit der Klassik und Romantik“, sprach Dr. Bernd Moldenhauer am vergangenen Donnerstag in einer Vortragsreihe der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG) Bremen in der Stadtbibliothek Bremerhaven.

Nach heutigen Maßstäben würde man sie als begnadete Netzwerkerin beschreiben – Rahel Varnhagen, deren Geburtstag sich in diesem Jahr zum 250. Mal jährt. „Es gelang ihr, in ihrem Salon über eineinhalb Jahrzehnte alles zu versammeln, was einen Federkiel halten konnte“, so Dr. Bernd Moldenhauer, Vorstandsmitglied der DIG Bremen/Unterweser und nannte unter anderem Friedrich Schlegel, Wilhelm und Alexander von Humboldt, Heinrich von Kleist, Heinrich Heine, Achim und Bettina von Arnim und E.T.A. Hoffmann. In seinem Vortrag, der auf Einladung des Kulturamts Bremerhaven im Rahmen des Festjahres „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ stattfand, zeigte er aber auch auf, dass Rahel Varnhagen immer bewusst war, dass sie als Frau und Jüdin „im doppelten Sinne gesellschaftliche Außen­seiterin war“.

„Die Atmosphäre eines gebildeten jüdischen Bürgerhauses prägte die literarisch und gesellschaftspolitisch interessierte Rahel.“

Möglich wurden die von jüdischen Frauen um 1780 in Berlin ins Leben gerufenen „Theestuben“ durch den Philosophen Moses Mendelssohn. „Ohne seine erstaunlichen Leistungen und sein europaweites Renommée wären die Berliner jüdischen Salons nicht denkbar gewesen“, so Moldenhauer. Waren die Juden doch „durch die harten Paragraphen des Friederizianischen ‚Reglements für die Juden‘ wie mit ehernen Fesseln umklammert“.

In Mendelssohns Haus erhielten nicht nur seine Töchter, sondern auch deren Freundinnen, unter ihnen Rahel Levin und Henriette de Lemois, später Herz Unterricht in Philosophie, Mathematik, Sprachen, Literatur und Rhetorik. „Die Atmosphäre eines gebildeten jüdischen Bürgerhauses prägte die literarisch und gesellschaftspolitisch interessierte Rahel.“

Vorreiterin der Salons war Henriette Herz, Frau des Arztes und Philosophen Markus Herz. Zehn Jahre später eröffnete die 19-jährige Rahel Levin in der Jägerstraße 54 in Berlin ihren Salon in der Dachstube ihres Elternhauses. Zu den „Theegesellschaften“ war jeder willkommen, der von anderen Gästen mitgebracht oder empfohlen wurde oder der interessant oder anregend zu sein versprach. „Es ging um ein von Standesschranken nicht beeinträchtigtes Zusammensein von Menschen“, sagte Moldenhauer.

Er zeigte aber auch auf, dass sich die wenigsten in der Lage sahen „Juden als Menschen und Bürger zu akzeptieren und sie im Übrigen ihr Leben leben zu lassen. Es wäre ein Ausweis aufgeklärten Denkens gewesen, aber zu ihr mochten sich nicht einmal alle Schriftsteller der Aufklärung verstehen – nicht Voltaire, nicht einmal Kant.“ Lessing, Nicolai, vielleicht Jean Paul seien von diesem selbstverständlichen Humanismus durchdrungen gewesen. „Bei anderen war eine ambivalente Haltung zum Judentum das Äußerste, zu dem sie sich aufschwingen konnten. Andere besuchten die Salons und ließen an anderem Ort ihren Aversionen und antisemitischen Gefühlen freien Lauf.“ So habe Achim­ von Arnim auf der 1811 gegründeten „deutsch-christlichen Tischgesellschaft“ über die sittliche Verkommenheit der Juden und ihre abscheulichen körperlichen Merkmale gesprochen. Um Juden zu erkennen, die sich unerkannt in die Tischgesellschaft einschleichen könnten, habe er vorgeschlagen, einen Juden zu häuten um seine „chemische Beschaffenheit“ zu erforschen. „Das ist Jahrzehnte später genauso geschehen“, so Moldenhauer.

Die antinapoleonischen Kriege läuteten das Ende der jüdischen Salons ein. Antisemitischer Propaganda folgten Pogrome antisemischer Mobs. Ein Geschehen, das deutlich mache, dass „die Gesellschaft der Ernstfall für die Außenseiter ist – sie sind die ausersehenen Opfer kollektiver Gewalt. Im Antisemitismus der Professoren und Schriftsteller und den Angriffen auf Juden zeichnete sich eine Konstellation ab, die Hannah Arendt als Voraussetzung der Shoah erkannt hatte: das Bündnis von Mob und akademischer und gesellschaftlicher Elite“, betonte Moldenhauer Und zog so auch parallelen zur Gegenwart.

Vor diesem Hintergrund sehe der Historiker Amos Elon die Salons der damaligen Zeit als „kleine Utopien“, eine Zeit, die auch als sogenannte „deutsch-jüdische Symbiose“ in Erinnerung geblieben sei. Doch die habe es nie gegeben. „Es gab auch nicht den christlich-jüdischen Dialog. Es gab Lessing, Dohm, Nicolai und damit ist die Liste derer, die in einen wirklichen Dialog mit Juden und Jüdinnen eingetreten sind, bereits beendet.“ Die lange Liste derer, bei denen die Forschung Judenfeindschaft aufgedeckt habe, sei jedoch sehr lang. „Sie ist mehr oder minder identisch mit dem Personenverzeichnis der Dichter, Gelehrten, Professoren während der Lebenszeit Goethes. Er selbst kommt auch darin vor.“

Was Moldenhauer zu folgendem Fazit bewog: „Am Umgang mit Minderheiten zeigen sich die Grenzen der Kultivierung. Die Aufklärung zeigt hier ihre unaufgeklärten, finsteren Züge. Der Neuhumanismus offenbart inhumane Einstellungen seiner Vertreter, und Romantiker erweisen sich, entgegen ihrem Bild in der Öffentlichkeit und ihrem Selbstbild, als gefühlskalt und gehässig.“