Einige Objekte, die wie diese Bronzefiguren aus dem afrikanischen Königreich Benin mit großer Wahrscheinlichkeit während einer sogenannten „Strafexpedition“ angeeignet wurden, haben heute eine wichtige Aufgabe: genau diese Geschichte zu erzählen    Foto: Lehmkühler

BREMEN re ∙ Die Folgen und Auswirkungen der Kolonialzeit beschäftigen Museen stärker denn je, sie nehmen diesen Aspekt der deutschen Geschichte kritisch unter die Lupe. Provenienzforschung – also die Geschichte der Herkunft von Kulturgütern – heißt das Stichwort der Stunde. Das Bremer Übersee-Museum zählt hier deutschlandweit zu den Vorreitern. Die Spurensuche ist eine Puzzlearbeit, die zu neuen Kontakten und überraschenden Kooperationen führt.

Woher genau stammt die afrikanische Bronzefigur? Unter welchen Umständen ist die Schnitzarbeit aus Papua-Neuguinea nach Deutschland gekommen? Mit Fragen wie diesen beschäftigen sich europäische Museen seit einigen Jahren verstärkt. Die Provenienzforschung zu Sammlungsobjekten aus kolonialen Zusammenhängen untersucht die Geschichte ihrer Herkunft und ist eine spannende Herausforderung. Zugleich steht sie für ein neues Miteinander und neue Formen der Zusammenarbeit, denn es geht darum, mit Vertreterinnen und Vertretern der Herkunftsgesellschaften auf Augenhöhe zu kooperieren. Das Bremer Übersee-Museum zählt deutschlandweit zu den Vorreitern in der Provenienzforschung.

Ein Grund dafür liegt in der Geschichte des hanseatischen Hauses. Das im Jahr 1896 eröffnete Übersee-Museum ist eine Gründung der Kolonialzeit – eine his­torische Epoche, die heute sehr viel kritischer betrachtet wird als noch vor wenigen Jahren. Die Bremer Kaufmannschaft mit ihren Beziehungen nach Übersee und in die damaligen Kolonien war an der Museumsgründung beteiligt, woraus sich heute eine besondere historische Verantwortung des Hauses ergibt. „Provenienzforschung zu Objekten aus kolonialen Kontexten deckt die Hintergründe und Umstände auf, unter denen in der Vergangenheit gesammelt wurde. Dabei konfrontiert sie uns mit einem Teil der deutschen Geschichte, der erst in den letzten Jahren in das Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit geraten ist“, erklärt Prof. Dr. Wiebke Ahrndt, die Direktorin des Übersee-Museums.

Feierliche Zeremonien: Würdevoller Rahmen für Rückgaben

Das Bremer Haus hat vergleichsweise früh damit begonnen, sich mit den Spuren der Kolonialzeit auseinanderzusetzen und ihnen nachzugehen. Schon Herbert Ganslmayr, ab 1975 Direktor des Museums, hat sich „in verschiedenen internationalen Gremien für die Restitution geraubten Kulturguts stark gemacht“, so Ahrndt. Der Ethnologe starb 1991 während einer UNESCO-Konferenz in Athen, bei der es um Rückgaben ging. Zwar sei in Ganslmayrs Amtszeit kein einziges Objekt des Übersee-Museums rückerstattet worden, sagt Ahrndt. „Aber das Thema Rückführung und die Auseinandersetzung mit der, wie es damals hieß, ,Sammlungsgeschichte’ waren im Haus gesetzt.“

Inzwischen haben viele Rückgaben stattgefunden. Und es sind Kriterien dafür entwickelt worden, etwa in Form von Leitfäden des Deutschen Museumsbunds. Unter leitender Mitwirkung der Bremer Direktorin entstanden die Leitfäden „Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten“ und „Umgang mit menschlichen Überresten in Museen und Sammlungen“. Die Rückführung von menschlichen Überresten an die Herkunftsgesellschaften erfordert dabei besonderes diplomatisches Feingefühl. Im Februar 2022 gab das Übersee-Museum menschliche Überreste an Hawaii zurück, im Jahr 2017 bereits 44 menschliche Überreste der Moriori und Maori an den Staat Neuseeland – jeweils im Rahmen feierlicher Zeremonien.

Objekte aus Benin: Bremen überträgt Eigentum an Nigeria

Schädel und Gebeine aus der Kolonialzeit in Vitrinen und Magazinen, das erscheint heute ethisch unangemessen; ebenso die Umstände der Aneignung. Vor diesem Hintergrund ist Provenienzforschung auch eine moralische Pflicht für Museen. Andere Sammlungsgüter stammen aus Raubzügen oder Plünderungen. Der koloniale Kontext gibt nicht immer Aufschluss darüber, ob die Provenienz problematisch ist oder nicht. Es kommt auf die Prüfung im Einzelfall an. Eine aufwendige und spannende Recherchearbeit – oft gilt es, Puzzleteile wie in einem Krimi zusammenzufügen. Vor allem lückenhaftes his­torisches Quellenmaterial zählt zu den Herausforderungen bei der Spurensuche.

Ein europaweit diskutiertes Beispiel sind in diesem Zusammenhang Bronze­figuren aus dem afrikanischen Königreich Benin (heute auf dem Gebiet Nigerias). 1897 wurde Benin-City im Rahmen einer sogenannten „Strafexpedition“ von britischen Truppen erobert. Und geplündert. Die Benin-Bronzen faszinierten europäische Kunstexpertinnen und -experten, sie haben Kunstrichtungen wie den Kubismus und Expressionismus beeinflusst. Das Übersee-Museum besitzt 18 Objekte aus Benin: Drei Gedenkköpfe sind in der Afrikaausstellung zu sehen, ein Zeremonialstab in der „Spurensuche“-Ausstellung zur Geschichte des Hauses. Inzwischen steht fest, dass die Sammlungsstücke „mit sehr großer Wahrscheinlichkeit“ aus der „Strafexpedition“ stammen. Was geschieht damit? Ahrndt: „Nigeria fordert nicht, dass alle im Ausland vorhandene Benin-Kunst zurück nach Nigeria geht. Es sollen durchaus Objekte in westlichen Museen verbleiben, wo mit ihrer Hilfe die Geschichte dieser ,Strafexpedition’ und Benins erzählt werden kann. Ich gehe davon aus, dass wir das Eigentum unserer Sammlung an Nigeria übertragen werden. Ich hoffe aber, dass zumindest ein Teil der Objekte weiter als Leihgabe des Staates Nigeria hier in Bremen ausgestellt werden kann.“

Vielfalt und Überraschungen in der Kooperation mit Herkunftsländern

Die Formen der Zusammenarbeit mit den Herkunftsgesellschaften sind vielfältig – und führen zu Innovationen. So arbeitet das Übersee-Museum derzeit bei der Neukonzeption seiner Ozeanien-Dauerausstellung eng mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus dem Pazifikraum zusammen. „Gemeinsam untersuchen wir unsere Sammlungen und stellen uns ihren berechtigten Erwartungen: Die Kooperationspartner und Kooperationspartnerinnen wollen aus ihrer Sicht ihre eigene Geschichte selbst erzählen. Dies soll in der neuen Ozeanien-Ausstellung geschehen“, so Ahrndt. „Wir gehen aber auch innovative digitale Wege: ,Measina Show & Tell’ ist ein digitales Kooperationsformat mit dem Centre for Samoan Studies an der National University of Samoa.“

Gefördert durch das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste hat dieser Tage am Übersee-Museum ein auf zwei Jahre angelegtes Forschungsprojekt begonnen, das 700 ethnografische Objekte aus der Provinz New Ireland in Papua-Neuguinea in den Blick nimmt. Die Historikerin Bettina von Briskorn beschreibt, wie sie vorgeht: „Zunächst habe ich mich mit der Geschichte New Irelands während der deutschen Kolonialzeit vertraut gemacht. Wie weit reichte die koloniale Durchdringung der Region? Welche Funktion hatte das Gebiet für die Deutschen? Dann sammle ich alle Hinweise, die ich in den alten historischen Verzeichnissen des Museums finden kann. Dabei prüfe ich auch die Stücke selbst auf sogenannte Provenienzmerkmale wie Etiketten, Zettel oder Aufschriften am oder auf dem Objekt.“ Schwieriger sei es dann, Hinweise auf den Vorgang des Sammelns an sich zu finden: „Wurde ein Objekt gekauft, getauscht oder geraubt?“ Anhand von Sammler-Biografien zum Beispiel lasse sich auf den mutmaßlichen historischen Kontext schließen, in dem gesammelt wurde. Geplant ist auch ein Forschungsaufenthalt von Vertreterinnen und Vertretern Papua-Neuguineas in Bremen. Voraussichtlich im Sommer 2023 wird der Meisterschnitzer Adam Kaminiel mit einem seiner Schüler nach Bremen reisen, so die Historikerin.

Der Kontakt zu Herkunftsgesellschaften trägt zuweilen auch unerwartete Früchte. „In Bezug auf das im Norden Kameruns gelegene Lamidat Tibati haben wir eine interessante Erfahrung gemacht“, berichtet Museumsdirektorin Ahrndt. „Von einer im Jahre 1899 von der deutschen ,Schutztruppe’ durchgeführten Strafexpedition gegen den Lamido von Tibati besitzen wir eine Vielzahl von Gegenständen, darunter auch Korane.“ Die aus dem Palast des Herrschers stammenden Objekte sind seit 1902 im Museum. „Vor einiger Zeit hat unser damaliger Kameruner Doktorand Ndzodo Awono bei einem Forschungsaufenthalt in seiner Heimat Kontakt zu Lamido El Hadj Hamidou Mohaman Bello aufgenommen. Er hat ihn darüber informiert, dass diese Dinge hier sind. Seine Majestät war kürzlich im Museum zu Gast und hat sich das Raubgut angesehen“, so Ahrndt weiter. „Anders als erwartet, möchte der Lamido allenfalls einzelne Stücke zurückhaben. Stattdessen möchte er in unterschiedlichen landwirtschaftlichen Projekten mit Bremen zusammenarbeiten und so die Zukunft positiv und gemeinsam gestalten.“