Dr. Wolfgang Schäuble, deutscher Volkspolitiker und Europäer  Foto: Melde

Mit einem Staatsakt im Deutschen Bundestag wurde am Montag der am 2. Weihnachtsfeiertag 2023 verstorbene Dr. Wolfgang Schäuble gewürdigt. Im Gespräch in der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung „Das Parlament“ erinnert der ehemalige Fraktionsvorsitzende Volker Kauder (CDU) an die jahrzehntelange Zusammenarbeit. Das Interview im Wortlaut:

? Herr Kauder, gibt es Freundschaft in der Politik?
! Es gibt in der Politik Freundschaft, wenn die Freundschaft schon vor der Politik bestanden hat, aber ich habe auch während meiner politischen Arbeit im Parlament gute Freunde gefunden.

? War Wolfgang Schäuble ein Freund für Sie?
! Wolfgang Schäuble war ein Freund, und wir hatten ja viele gemeinsame Jahrzehnte in der Politik.

? Was beschreibt ihn in seinem Wirken am besten? Unabhängig, unparteiisch oder unbequem?
! Alles drei. Er war unabhängig und konnte auch unbequem werden – vor allem im Gespräch mit Menschen, von denen er meinte, dass sie intellektuell nicht auf Augenhöhe mit ihm sind. Das hat er dann auch gezeigt. Er konnte aber auch unbequem sein, wenn es um bestimmte politische Projekte ging. Das habe ich in meiner Zeit als Fraktionsvorsitzender immer wieder erlebt, vor allem als er Finanzminister war. Sein „Nein“ zu bestimmten Ausgabenwünschen war meistens nicht zu knacken.

? Schäuble war die 1990er Jahre hindurch Vorsitzender der Unionsfraktion, Sie fast in der gesamten Ära Merkel. Hat diese Gemeinsamkeit Ihre Beziehung verändert?
! Nein. Sicher war es für mich gut, dass Wolfgang Schäuble die Erfahrung als Fraktionsvorsitzender auch hatte und wir beide wussten, dass es nicht immer einfach war, Chef der Bundestagsfraktion zu sein: die Truppe zusammenzuhalten, zur gleichen Zeit aber auch die Regierungsarbeit zu unterstützen. Deswegen konnten wir uns bei großen Herausforderungen schon aufeinander verlassen.

? Sie sagten, dass Schäuble nicht zuletzt als Finanzminister unbequem sein konnte. Derweil hatten Sie der Kanzlerin die Mehrheit zu sichern. Wie schwer war das, wenn Schäuble mal anderer Meinung als Merkel war – etwa als er in der Euro-Krise für ein zeitweiliges Ausscheiden Griechenlands aus dem Euro warb?
! Da habe ich mit ihm mehrfach gesprochen, und da kam dann der typische Wolfgang Schäuble: „Ich habe meine Meinung, aber als Minister der Kanzlerin Angela Merkel bin ich loyal“. Da wusste man, dass er anderer Meinung ist als sie, dies aber nur sehr verhalten zeigt. Dass er seine Meinung zeigt, war selbstverständlich für ihn. Aber er hat sich loyal verhalten, was ihm in dieser Frage sicher nicht leichtfiel.

? Auf dem Trauerstaatsakt für Schäuble hat auch der französische Staatspräsident gesprochen. Was war für Schäuble die deutsch-französische Freundschaft – und umgekehrt?
! Dass der französische Staatspräsident gekommen ist, ist schon eine außergewöhnliche Würdigung des politischen Lebens von Wolfgang Schäuble. Ich halte es aber auch für angemessen. Schon in frühester politischer Tätigkeit hat er sich für die deutsch-französische Zusammenarbeit eingesetzt; das war ihm ein Herzensanliegen. Er hat immer gesagt, der Rhein dürfe uns nicht trennen, und sah in der deutsch-französischen Freundschaft den wahren Motor der europäischen Einigung. Das hat er seine ganze politische Arbeit hindurch verfolgt.

? Bei einem Empfang zu Schäubles 70. Geburtstag, zu dem Sie als Fraktionschef eingeladen hatten, sagte Christine Lagarde, die heutige EZB-Präsidentin: „Europa hat eine Seele, aber Europa hat auch ein Herz – und das schlägt in Wolfgang Schäuble.“ Machen Sie sich Sorgen um Europa, nachdem dieses Herz nun aufgehört hat zu schlagen?
! Die Europäische Union ist zurzeit in keinem wirklich guten Zustand. So haben wir etwa zu lange Entscheidungswege in der EU. Diese Schwierigkeiten dürfen uns aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Wolfgang Schäubles Satz „Europa ist unsere Zukunft“ stimmt. Ohne dieses Europa sähe alles viel schlimmer aus. Wir durften als erste Nachkriegsgeneration erfahren, dass Europa die wirkliche Friedensversicherung für uns war – schon allein das rechtfertigt es, sich für dieses Europa bedingungslos einzusetzen.

? Was war Ihr erster Eindruck von Schäuble, als sie sich Anfang der 1970er Jahre kennenlernten?
! Er war damals Bezirksvorsitzender der Jungen Union Südbaden, ich Kreisvorsitzender in Konstanz. Ich erinnere mich noch gut an die ersten Begegnungen, die beeindruckend waren durch seine brillanten Analysten, seine Reformvorschläge auch für die CDU und seinen Willen, Dinge, die er für richtig hielt, auch umzusetzen. Wir haben freundschaftlich, aber nicht immer spannungsfrei zusammengearbeitet.

? Neun Tage nach der Deutschen Einheit wurde Wolfgang Schäuble Opfer des Attentats, das ihn für den Rest seines Lebens an den Rollstuhl fesselte. Welchen Eindruck machte er auf Sie, als Sie ihn danach erstmals wieder trafen?
! Wir waren als die Kandidaten aus Baden-Würt­temberg für die Bundestagswahl 1990 nach Offenburg eingeladen, als er dort zum ersten Mal nach dem Attentat wieder in die Öffentlichkeit kam. Ich stand auf der Bühne, als Wolfgang Schäuble im Rollstuhl zu uns kam. Da sind mir die Tränen gekommen. Ich habe ihn bewundert – man sah, dass er nicht gesund war, das hat mich sehr mitgenommen. Aber später spürte man, dass er dies überwunden hat. Er wollte auch nie auf die Situation im Rollstuhl angesprochen werden und ich kann mir vorstellen, dass die Leistungen, die er danach erbracht hat, für viele Menschen mit Behinderungen ermutigend sein könnten.

? Im Februar 2000 trat er im Zuge der CDU-Spendenaffäre vom Partei- und Fraktionsvorsitz zurück. Wie haben Sie das erlebt, vor allem den Bruch zwischen dem Parteipatriarchen und Einheitskanzler Helmut Kohl und Schäuble?
! Das war für mich und für viele alles sehr verstörend. Es machte mich auch sehr betroffen, weil ich gedacht hatte, dass Wolfgang Schäuble die organische Nachfolge von Helmut Kohl sein und uns in die neue Zeit führen könnte. Ich glaube, er hat unter dieser Situation mehr gelitten, als er es zeigte, und dass er – wie wir alle – das Gefühl hatte, dass es da nicht sehr gerecht zugegangen ist. Aber er hat gewusst, dass Politik so sein kann und man sie nicht planen kann wie eine Beamtenkarriere.

? Sein Wort hatte auch danach ganz unabhängig von seinen Ämtern großes Gewicht – oder täuscht der Eindruck?
! Der Eindruck täuscht nicht, das war so. Ich habe das ja in 13 Jahren als Fraktionsvorsitzender erlebt: Es wurde mucksmäuschenstill, wenn er sich in der Fraktion zu Wort meldete. Jeder wusste dann: Jetzt kommt etwas Besonderes.

? Als Schäuble 2017 dienstältester Abgeordneter in einem gesamtdeutschen Parlament wurde und diese Zeitung dies vermelden wollte, verwies er darauf, dass SPD-Übervater August Bebel eine längere Parlamentszugehörigkeit aufweise, wenn man dessen Abgeordnetenzeit im Norddeutschen Bund von 1867 bis 1871 berücksichtigt. Diese Jahre wollte er nicht übergangen wissen, auch wegen Bebels damaligen Warnungen vor der Annexion Elsass-Lothringens und den Folgen für das Verhältnis zu Frankreich. Was sagt das über den CDU-Politiker und was über den Menschen Wolfgang Schäuble?
! Wolfgang Schäuble war trotz seiner Ämter in der Exekutive leidenschaftlicher Parlamentarier. Er hat mit dieser Aussage zu Bebel diese Leidenschaft für das Parlament besonders gezeigt, und er konnte auch Leistungen anerkennen, die aus anderen Fraktionen kamen. Zu einem leidenschaftlichen Parlamentarier gehört, sich zwar im Parlament diskutierend zu streiten, aber auch zu sehen, dass in Situationen, in denen das Land vor besonderen Herausforderungen steht, die Zusammenarbeit nötig ist. Es war ihm auch als Bundestagspräsident wichtig, dass die demokratischen Parteien in wesentlichen Fragen zusammenstehen, um sich so der Angriffe der rechten Seite erwehren zu können. Er wusste, dass das Parlament für die Zustimmung zur Demokratie eine entscheidende Aufgabe hat.