Uwe Boldt ist als Lernbotschafter mit dem Alfa-Mobil des Bundesverbandes Alphabetisierung und Grundbildung e.V. unterwegs, wie hier in Otterndorf Foto: tw
OTTERNDORF tw ∙ „Traut euch, springt über eure Schatten und geht die Sache an.“ Uwe Boldt weiß, wovon er spricht. Er war selbst funktionaler Analphabet und weiß wie schambehaftet das Thema ist und wie schwer es ist, sich seiner Umwelt zu öffnen. Er hat es geschafft und ist inzwischen als Lernbotschafter mit dem Alfa-Mobil des Bundesverbandes Alphabetisierung und Grundbildung e.V. unterwegs. Und er kann jedem, der von der Thematik betroffen ist, nur raten sich zu öffnen und auch später im Leben das Lesen und Schreiben richtig zu lernen. „Es hat mein Selbstwertgefühl gesteigert“, sagt er. „Ich bin selbstsicherer geworden, auch weil ich jetzt offen und ehrlich damit umgehen kann.“
Am Dienstag machte das Alfa-Mobil Halt in Otterndorf vor dem Edeka-Markt; um auf das Thema funktionaler Analphabetismus aufmerksam zu machen, die Menschen zu sensibilisieren, aber auch um auf niedrigschwellige Art Betroffene zu erreichen, die so erfahren können, dass sie mit ihrem Problem nicht allein sind.
„Jeder achte Erwachsene in Deutschland kann nicht richtig schreiben und lesen. Das heißt 6,2 Millionen Menschen“, sagt der Erziehungswissenschaftler Stefan Wälte, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Projekt Alfa-Mobil. Und räumt auch gleich mit einem Vorurteil auf. „Es sind nicht wie immer wieder vermutet wird hauptsächlich Migranten. Über 50 Prozent sind Deutsche.“ Und es seien meist intelligente, emphatische und kreative Menschen, die es wie Uwe Boldt schaffen, ihr Defizit zu verheimlichen und eine Fassade aufrechtzuerhalten. Was aber auch zu einem großen Leidensdruck führe, wie er sagt.
Funktionaler Analphabetismus sei zudem entgegen landläufiger Meinung überall verbreitet, in Städten wie auf dem Land. Mit einem Unterschied: Je ländlicher es wird, umso mehr seien Menschen mit geringen Lese- und Schreibfähigkeiten stärker isoliert.
Auf dem Land ist nicht nur das Bildungsangebot geringer, man wird auch eher gesehen, wenn man Angebote annimmt. „Und wenn jemand es so lange geschafft hat, die Fassade zu wahren, fällt es schwer, dazu zu stehen.“
Was Dr. Marie-Louise Rendant, Geschäftsführerin der VHS im Landkreis Cuxhaven, bestätigen kann. „Die Analphabetisierungskurse werden so gut wie gar nicht angenommen.“
Mit dem Alfa-Mobil, will der Bundesverband das Thema deshalb gerade in der ländlichen Region sichtbar machen. Auch um Partner, Kollegen, Freunde oder Nachbarn zu sensibilisieren, denn ein unterstützendes und nicht wertendes Umfeld sei entscheidend für Motivation und Mut der Betroffenen sich Hilfe zu suchen.
Wer Hilfe sucht, kann sich vor Ort an die VHS unter (04751) 97 834 41 oder an das kostenlose Alfa-Telefon unter (0800) 53 33 44 55 wenden.
„In meiner Klasse waren wir 35 Schüler, die Lehrer kurz vor der Pension und ich wurde aus pädagogischen Gründen versetzt“, sagt Uwe Boldt über seinen damaligen schulischen Werdegang von der 1. bis zur 9. Klasse. Danach war er im Hamburger Hafen beschäftigt, zuerst als Laufbursche, später belud er Schiffe, arbeitete in verantwortlicher Position. „Ich kann alles fahren, vom Gabelstapler bis zur Containerbrücke.“ Nur fünf Leute wussten an seiner Arbeitsstelle Bescheid „So konnte ich mich immer irgendwie durchschummeln.“ Denn er hat es geschafft, trotz seines Lese- und Schreibdefizits die notwendigen Prüfungen abzulegen, wie etwa die Führerscheinprüfung, „da musste man die Antworten ja nur ankreuzen“.
Doch dann wechselte er zu einer anderen Firma, wo viel mit dem PC gearbeitet wurde. Dies war der Zeitpunkt, an dem der Leidensdruck für den damals 50-jährigen zu groß wurde. Und auch er holte sich erste Informationen und Hilfe bei einem Informationsstand zur Alphabetisierung. „Aber ich bin erstmal fünf bis sechs Mal daran vorbeigelaufen, bis niemand mehr davorstand.“ Und hat dann in einem VHS-Kurs lesen und schreiben gelernt. Auch in seiner Firma hatte er alle eingeweiht. „Und die positiven Reaktionen haben überwogen“, sagt der 66-Jährige. Oft habe er gehört „Hut ab, dass du das gewagt hast.“ Eine Erfahrung, die ihn dazu bewog als Lernbotschafter mit dem Alfa-Mobil auf Tour zu gehen. „Dann merken die Betroffenen gleich, sie sind nicht allein und können mit jemandem sprechen, der weiß, wie es ist.“ Und er hofft, dass viele seinem Beispiel folgen. Denn aus seiner eigenen Erfahrung heraus kann er voller Überzeugung sagen: „Früher war alles schwarz-weiß, heute ist es bunt.“