Daniel Botmann   Foto: ZdJ

Der Geschäftsführer des Zentralrats der Juden in Deutschland, Daniel Botmann (Foto: ZdJ), beklagt das vielfach fehlende Wissen von Schülern über den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust. „Wenn in Umfragen 40 Prozent der Schüler der 8. oder 9. Klasse angeben, mit dem Begriff Auschwitz nichts anfangen zu können, ist das ja noch bezeichnender. Offensichtlich gibt es auch in der schulischen Bildung eine Fehlentwicklung“, sagte Botmann. Er kritisierte außerdem die oft stereotype Darstellung von Juden in Lehrbüchern, denn dort würden sie „häufig stilisiert mit Schläfenlocken und langem Bart dargestellt. Das wird aber der Realität in Deutschland überhaupt nicht gerecht“. Das Interview im Wortlaut:

? Herr Botmann, 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nehmen nur noch vereinzelt Zeitzeugen an den Gedenkveranstaltungen teil. Die Ereignisse werden zunehmend historisiert, worauf viele Menschen auch mit Sorge blicken. Zu Recht?
! Das Sterben der Zeitzeugen wird die Gedenkkultur, wie wir sie kennen, verändern. Das Erinnern für alle Altersgruppen, aber auch für Menschen mit Migrationshintergrund, die keinen familiären Bezug zur Shoa haben, weiterhin authentisch zu gestalten, ist die große Aufgabe der heutigen Gesellschaft. Aber sie ist lösbar.

? Es waren die Überlebenden der Konzentrationslager, die nach 1945 dafür gesorgt haben, dass aus Tatorten Gedenkorte wurden, dass anderswo Mahnmale entstanden sind. Die Opfer mussten für ihr Anliegen selber kämpfen.
! Dieses Phänomen erleben wir auch heute. Zum Beispiel drängen Länder wie Polen oder Ungarn sehr darauf, Opfer in den Arbeits- oder Vernichtungslagern nicht mehr als jüdische, sondern als polnische oder ungarische Opfer darzustellen. Auch da ist es wieder Aufgabe der jüdischen Seite zu betonen: Wir dürfen das nicht so einfach verwischen. Denn diese Menschen sind ermordet worden, weil sie Juden waren und nicht, weil sie Polen oder Ungarn waren.

? In der Bundesrepublik ist nach dem anfänglichen Verschweigen der Verbrechen in mühevollen Aushandlungsprozessen eine vielfältige Erinnerungskultur mit Gedenk- und Dokumentationsstätten entstanden, die sich über zu wenige Besucher nicht beklagen können. Das ist doch eine gute Nachricht, oder?
! Durch das tatsächliche Erleben solcher Orte des Schreckens verändert sich häufig auch der Blick, und die Sensibilität für dieses Thema steigt. Aber der alleinige Besuch einer Gedenkstätte reicht nicht aus, um ein Bewusstsein für die Geschichte zu entwickeln. Dafür ist eine pädagogische Vor- und Nachbereitung zwingend. Das heißt: Neben der Finanzierung der Gedenkstätten muss es Platz in Lehrplänen und in der Ausbildung des Lehrpersonals für dieses Thema geben.

? Im Widerspruch zu dem Besucherandrang scheint zu stehen, dass in Umfragen der Anteil jener Befragten steigt, die einen Schlussstrich unter dieses Kapitel ziehen wollen. Diese Debatte ist längst keine mehr, die nur ganz rechts außen geführt wird.
! Ich gehe noch einen Schritt weiter. Wenn in Umfragen 40 Prozent der Schülerinnen und Schüler der achten oder neunten Klasse angeben, mit dem Begriff Auschwitz nichts anfangen zu können, ist das ja noch bezeichnender. Offensichtlich gibt es auch in der schulischen Bildung eine Fehlentwicklung.

? Gibt es dazu Gespräche mit den Landesbildungsministern, was eine bessere Vermittlung des Themas in der Schule betrifft?
! Wir sind eng mit der KMK (Kultusministerkonferenz) vernetzt. Unter anderem wurde bereits ein Leitfaden für die Darstellung von Juden in Schulbüchern erarbeitet, denn darin werden sie häufig stilisiert mit Schläfenlocken und langem Bart dargestellt. Das wird aber der Realität in Deutschland überhaupt nicht gerecht. Es gibt auch Empfehlungen für Lehrkräfte zum Umgang mit Antisemitismus. Aber die besten Konzepte helfen nicht, wenn sie am Ende nur von einem Teil der Lehrkräfte umgesetzt werden. Auch die Eltern dürfen sich im Übrigen nicht aus der Verantwortung nehmen. Es kann nicht alles an die Schule abgeschoben werden. Es liegt auch an ihnen, den Kindern einen Kompass mit auf den Weg zu geben. Die Erinnerung an die Shoa ist kein Matheunterricht. Es geht auch darum, Kinder und Jugendliche emotional zu erreichen und Empathie zu erzeugen. Das gilt für die Schule, aber auch für zu Hause.

? In einer aktuellen Befragung gaben rund 60 Prozent der jungen Menschen an, ihr Wissen über den Nationalsozialismus hauptsächlich aus den Sozialen Medien zu beziehen. Es sei dort ein schwer überschaubarer Tummelplatz entstanden, auf dem Geschichte diskutiert, emotional aufgeladen oder verfälscht wird, schrieb jüngst ein Historiker dazu. Macht Ihnen das Angst?
! Angst ist das falsche Wort. Ich denke, wir sollten hier aktiv etwas entgegensetzen. Es ist gut, wenn Gedenkstätten beispielsweise auf Plattformen wie TikTok und in anderen sozialen Medien präsenter werden. Ich denke, in digitale Bildungsformate sollte noch mehr investiert werden, als es derzeit der Fall ist. Das Internet und Soziale Medien werden nicht verschwinden. Dieser Raum muss künftig noch viel intensiver für Bildung und Aufklärung genutzt werden.

? Im vergangenen Jahr hat das Gedenkstättenkonzept der Ampel-Regierung heftigen Widerspruch ausgelöst. Sie hatten befürchtet, dass eine breitere thematische Aufstellung zulasten der Darstellung der NS-Verbrechen führen könnten. Konnten Sie das nachvollziehen?
! Ich habe die Sorge geteilt. Die Shoa ist singulär in der deutschen Geschichte. Wir sind natürlich überzeugt von der Notwendigkeit, die einzelnen Epochen der deutschen Geschichte aufzuarbeiten, auch die Kolonialzeit und die Verbrechen, die hier stattgefunden haben. Es wird aber den historischen Ereignissen nicht gerecht, wenn sie so miteinander vermischt werden, wie es in dem Konzept bis zum Ende leider geplant war. Das dient im Übrigen weder der Aufarbeitung des einen noch des anderen Verbrechens.

? Die Eröffnung des Holocaust-Mahnmals jährt sich am 10. Mai zum 20. Mal. Wie finden Sie es, wenn an so einem Ort Kinder durch die Gegend toben und Verstecken spielen?
! Letztendlich fügt sich dieser Ort ein in das Stadtbild und so, wie das Mahnmal gestaltet ist, ist es unumgänglich, dass dort auch Kinder Verstecken spielen. Dennoch denke ich, entsteht bei den meisten Besuchern ein beklemmendes Gefühl, wenn sie sich zwischen den Stelen bewegen, und sie fangen an, sich mit der Besonderheit des Ortes auseinanderzusetzen.

? Verändert hat sich seit einigen Jahren der Diskurs über die Opfer, immer mehr Opfergruppen des NS-Regimes geraten in den Fokus. Wie sehen Sie diese Entwicklung?
! Eins ist klar: Es darf und es sollte keine Opferkonkurrenz geben. Natürlich muss an all die Opfer des Nationalsozialismus erinnert werden, ob es Homosexuelle, politisch Verfolgte, Kommunisten oder Sinti und Roma waren. Es darf dabei aber nicht zu einer Marginalisierung der jüdischen Opfer kommen, denn sie waren nun einmal bei weitem die größte Opfergruppe.

? Nach dem Hamas-Terror vom 7. Oktober 2023 und dem starken Anstieg antisemitischer Straftaten ploppte in der Debatte darüber die Forderung nach einem verpflichtenden Besuch einer KZ-Gedenkstätte für Schüler wieder auf. Würden Sie das befürworten?
! Ich würde es tatsächlich befürworten, wenn es eingebettet wäre in ein pädagogisches Konzept. Nur dann, glaube ich, kann es tatsächlich einen wirkungsvollen Effekt haben.

? Seit Oktober 2023 überlegen Mitglieder jüdischer Gemeinden wieder, Deutschland zu verlassen, weil sie sich nicht mehr sicher fühlen. Wie präsent ist das Thema in den Gemeinden aktuell?
! Die Gefahrenlage für jüdische Gemeinden und für Juden in Deutschland ist nach wie vor hoch. Auswanderungsgedanken gibt es bei Juden in Deutschland vereinzelt, sie sind aber kein Massenphänomen. In Frankreich oder Spanien allerdings sind die jüdischen Gemeinschaften in einer noch dramatischeren Situation, auch was die öffentliche Stimmung angeht. Fortsetzung auf Seite 6